DER JÄGER GRACCHUS IN DER EXPEDITHALLE DER ANKERBROTFABRIK

In der Expedithalle der hundertjährigen Ankerbrotfabrik, in der einst täglich 150 Tonnen Brot verladen wurden, wird der Jäger Gracchus in Riva anlanden. Wo ist Riva? Riva, das Ufer, das ersehnte Land? Wird Riva das Ziel sein können dieser schrecklichen, schmerzenden, Jahrhunderte dauernden Irrfahrt?

Es sind Kafkas rätselhafte Worte, die dem Grauen einen unbestimmten Sog verleihen, weil wir uns durch ihn verstanden fühlen, ohne dass man es genau benennen könnte. Jeder fühlt sich von Kafka verstanden, aber an Kafka gleitet das Verständnis ab wie Regenwasser an Schwertlilienblättern; die verstehenden Worte ragen nach ihrem Konsum genauso kristallen jungfräulich in den kalten Nachthimmel, wie Kafka sie geschrieben hat. Der Jäger wird sich Riva entziehen, dem mehltauigen Frieden, dem kümmernden Dasein. Er wird sich entziehen auf geheimnisvolle Weise, er, der Fehlerhafte, der Ausgestoßene, der Hinausgeschleuderte. Sein Geheimnis versteht nur die Musik, die ihn mit sich nimmt, die er mit sich nimmt, die uns zurücklässt am Ufer, am Land, an einem Land, nach dem wir uns nie gesehnt haben.

Olga Neuwirth erhielt für diese Aufführung einen Kompositionsauftrag.


Kafka schrieb an dem Stoff vor allem 1917. Max Brod veröffentlichte den «Jäger Gracchus» 1931, sieben Jahre nach Kafkas Tod, zusammen mit anderen Schriften aus dessen Nachlaß in «Beim Bau der chinesischen Mauer». Für die "Gracchus"-Erzählung stellte er verschiedene Fragmente, die er im «Oktavheft B» Kafkas fand, zusammen und erfand den Titel. Eine fremde Gestalt, deren Ankunft auf mystische Weise angekündigt wird, erscheint in Riva, einem ruhigen Fischerort; gebracht wurde er von einer schwarzen Barke. Der auf einer Bahre Getragene erscheint tot, doch es entspinnt sich ein Dialog mit dem Bürgermeister, in dem der Gezeichnete behauptet, er sei vor vielen Jahrhunderten als Jäger im Schwarzwald „aufgestellt“ worden und bei der Verfolgung einer Gemse abgestürzt und verblutet. Sein Todeskahn jedoch habe die Fahrt verfehlt, und seither befahre er alle Gewässer der Erde, immer auf der Suche nach dem Ziel. Kafka hatte interessanterweise immer wieder an dem Stoff gearbeitet und offensichtlich zu keiner endgültigen Lösung gefunden, sodass man, trotz der erzählerischen Geschlossenheit, wie bei den meisten Werken Kafkas, von einem Fragment sprechen muss. Viele Bezüge sind offensichtlich, dennoch gelingt Kafka eine meisterhafte Verrätselung, besonders durch den berühmten poetischen Schlusssatz des Jägers: »Ich bin hier, mehr weiß ich nicht, mehr kann ich nicht tun. Mein Kahn ist ohne Steuer, er fährt mit dem Wind, der in den untersten Regionen des Todes bläst.«

Die scheinbar lesbaren Bezüge beginnen bei den "sprechenden" Namen. Zunächst der Titelheld: Gracchus hießen die beiden berühmten römischen Tribunenbrüder, die ihr Engagement für die römische Bevölkerung mit ihrer Ermordung bezahlten. Eine andere Verbindung scheint weiter zu führen, entpuppt sich aber als nicht minder vieldeutig: das italienische Wort «gracchio» (lateinisch «graculus») bedeutet Dohle, genauso wie das tschechische Wort «kavka», sodass wir annehmen dürfen, dass der Jäger, der sich unfreiwillig zwischen den Welten befindet, etwas mit Kafka selbst zu tun hat. Darauf deuten auch die enigmatischen Sätze hin: »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe, niemand wird kommen, mir zu helfen" und weiter: "Das weiß ich und schreie also nicht, um Hilfe herbeizurufen", wobei es in Kafkas Manuskript heißt: »Das weiß ich und schreibe also nicht, um Hilfe herbeizurufen". Das schreibe verbesserte Brod stillschweigend in schreie.

Der Bürgermeister heißt „Salvatore“, ein für Riva untypischer Name, da er ausgesprochen süditalienisch konnotiert ist. Die Bedeutung ist „Retter“. Die Christusbezüge sind aber eher parodistisch, denn den Herrn Bürgermeister in Cylinderhut und schwarzen Handschuhen „bekümmerte alles“, er kann keineswegs von den Toten auferwecken, und auch die Taube, die ihm die Ankunft des Jägers angekündigt hat, ist als heilbringendes Symbol deformiert, denn „sie ist groß wie ein Hahn“, und dem Hahn haften in seiner Triebhaftigkeit höchst unüberirdische Eigenschaften an.

„Julia“ ist der Name der Frau des Bootsführers, und Julia heißt der weibliche Teil des berühmtesten Liebespaares der Weltliteratur, beheimatet gar nicht weit von Riva, nämlich in Verona. Julia begibt sich als Scheintote auf die Reise zu ihrem Liebsten, kommt aber nicht ans Ziel und wird grausam enttäuscht: Das Spiel mit dem scheinbaren Tod geht bitter aus, Romeo erkennt den Schein für echt und stirbt, und Julia folgt ihm.

Der Schauplatz ist Riva am Nordufer des Gardasees, das Kafka aus eigener Anschauung kannte. Zwei Dinge springen ins Auge: Zum einen wird der Gardasee rechts von Riva von über 300 Meter senkrechtabfallenden Felswänden begrenzt, was eine Ortung sowohl durch Wasser als auch Gebirge möglich macht. Zum andern heißt „riva“ Ufer, was wiederum an sich schon ein Zwischenreich von Wasser und Land bedeutet.

Weiters lassen sich motivische Verwandtschaften ausmachen zu den großen Jägergestalten wie Orion oder zu dem Fährmann der Unterwelt Charon, auf dem man 100 Jahre warten musste am Ufer des Styx, wenn man kein Fährgeld vorzuweisen hatte (die Münze unter der Zunge, die ein Teil der Bestattungszeremonie war), oder nicht ordentlich begraben worden war.

Schlagend ist die Parallele zu Ahasver, der Jesus den gastlichen Aufenthalt in seinem Haus verweigert hatte, und der deshalb rastlos zu ewiger Wanderschaft verurteilt ist; möglicherweise inspirierte diese Gestalt Heine zu seiner ironisierten Figur des Fliegenden Holländers, die wiederum Wagner in seiner grandiosen Romantischen Oper aufgriff.
Das Schiff als Symbol des Lebens, die Schiffsreise als Lebensfahrt ist ein weitverbreiteter, mythenalter Topos. Homers Odysseus, Melvilles Kapitän Ahab, Poes Arthur Gordon Pym oder der Jäger Gracchus, der nur in seinen Bergen leben wollte – sie alle versuchen dem Wasser das Geheimnis des Lebens zu entreißen durch beharrliches Fragen. Sie fragen und lassen sich nicht dadurch beirren, dass am Ende vom Lied das Scheitern steht, dass „man uns mit einer Handvoll / Erde endlich stopft die Mäuler – / aber ist das eine Antwort?“ (Heine).

Die These unserer Aufführung ist: solange man fragt, ist man nicht tot. Seltsamerweise wirkt der Tote auf der Bahre, der schmutzig ist und seit Jahrhunderten in seiner Koje modert, lebendiger als der ganze Ort Riva, vielleicht, weil es so „bekümmernd“ zugeht. In Riva wird hingenommen, nichts gewusst, nicht gefragt, hier wird existiert, nicht gelebt. Der Jäger jedoch findet trotz der entsetzlichsten Umstände die Kraft, sich nicht abzufinden, er fragt, er will wissen, er will die Zusammenhänge verstehen, er hat ein Ziel.