ÖDIPUS LOST

ö d i p u s   d a s   v e r l o r e n e   k i n d

Ein zentraler Punkt ist für uns die Stelle, als Ödipus erkennen muss, dass seine Eltern ihm die Fersen durchbohrt, die Füße zusammengebunden und ihm eigenhändig einem Hirten übergeben haben, dass er das Kind im Kithairon dem Tod durch wilde Tiere, Durst oder Hunger ausliefere.

Bekanntlich konnte der Hirte, ähnlich wie der Jäger in Schneewittchen, den Mord nicht übers Herz bringen. Ödipus fragt nach seinen Beweggründen. Der Hirte antwortet: „Aus Mitleid“¹. Der Hirte hatte Mitleid, die eigene Mutter nicht: „Sie, die Mutter, brachte es über sich?“². Mag man darüber im Unklaren gelassen sein, ob es der Vater war, wie Jokaste glauben machen will³, oder die Mutter, wie in den obengenannten Versen betont wird, in jedem Fall muss Ödipus erfahren, dass seine Eltern ihn töten wollten.

Wir empfehlen das Lied Vor meiner Wiege von Franz Schubert, komponiert 1827. Der Text stammt von dem steirischen Dichter Karl Gottfried Ritter von Leitner (1800-1890) Gymnasiallehrer und Schriftsteller. Erzherzog Johann von Österreich ernannte Leitner 1858 zu einem der drei Kuratoren des von ihm in Graz gegründeten Landesmuseum Joanneum.

¹ Vers 1178
² Vers 1175
³ Vers 718
Zitiert wird, wenn nicht anders angegeben, mit der Versnummer aus der wörtlichen Übersetzung in: Jean Bollack, Sophokles: König Ödipus. Übersetzung-Text-Kommentar, Inselverlag 1994.




VOR MEINER WIEGE

Das also, das ist der enge Schrein,
Da lag ich einstens als Kind darein,
Da lag ich gebrechlich, hilflos und stumm
Und zog nur zum Weinen die Lippen krumm.

Ich konnte nichts fassen mit Händchen zart,
Und war doch gebunden nach Schelmenart;
Ich hatte Füßchen und lag doch wie lahm,
Bis Mutter an ihre Brust mich nahm.

Dann lachte ich saugend zu ihr empor
Sie sang mir von Rosen und Engeln vor,
Sie sang und sie wiegte mich singend in Ruh,
Und küßte mir liebend die Augen zu.

Sie spannte aus Seide, gar dämmerig grün,
Ein kühliges Zelt hoch über mich hin.
Wo find ich nur wieder solch friedlich Gemach?
Vielleicht, wenn das grüne Gras mein Dach!

O Mutter, lieb; Mutter, bleib' lange noch hier!
Wer sänge dann tröstlich von Engeln mir?
Wer küßte mir liebend die Augen zu
Zur langen, zur letzten und tiefesten Ruh'?

Mit nackten Tönen skizziert der Komponist in den ersten beiden Strophen die hilflose Situation des Säuglings, derer er sich beim Anblick der Wiege bewusst wird. In der dritten Strophe, in der von Rosen und Engeln die Rede ist, blüht mit einem Mal eine Melodie auf, die einen vor Schönheit erstarren lässt. Schubert malt ein Paradies am Busen der Mutter, doch wir, als Freunde seiner Musik, wissen, dass solche Glückseligkeit niemals wirklich ist – diese Schubertschen Elysien sind Träume, wie die Blumen im Winter, wie die Treue eines Mädchens. Diese Mutter hat es nie gegeben, deshalb sieht das lyrische Ich nur im Tod eine Alternative, der wieder zur schmucklosen musikalischen Diktion des Anfangs zurückkehrt. Typisch romantisch wird das bessere Leben mit der Kraft der Sehnsucht beschrieben und erobert und gleichzeitig als Utopie entlarvt. Und doch hallen die Rosen und Engel nach – das kühlige grüne Zelt – auch die ungestillte Sehnsucht ist Erfüllung. Da Lied hält die Waage zwischen Leben und Tod, zwischen Glück und Abgrund, Der Musik ist es gegeben, in einer einzigen süßen Phrase das Glück und gleichzeitig die Trauer um den Verlust desselben auszudrücken.

VOR MEINER WIEGE

So ein VOR MEINER WIEGE erlebt Ödipus, als ihn der Hirte aufklärt über die Herkunft seiner vernarbten Füße. er ist ungläubig, hofft noch, dass er nur eine Sklavenabkunft entdecken wird – aber er muss alle Hoffnungszweifel fahren lassen – seine eigenen und wahren Eltern wollten ihn vernichten, und zwar gründlich. Nicht versehentlich, sondern doppelt und dreifach, mit durchbohrten Fersen, mit zusammengebundenen Füßen, als ob er, ein wildes Tier, wegrennen und Rache nehmen könnte, der hilflose Säugling.




ÖDIPUS LOST

d e l p h i   d a s   n u t z l o s e   o r a k e l

Nun wird man einwenden, wie der Hirte, der Ödipus hilflos zu besänftigen sucht mit dem Hinweis auf das Orakel, die Mutter hätte es getan „aus Angst vor dem Unheil, das der Gott verkündet hatte“¹, Jokaste und Laios hätten das Kind ja gerne geherzt und geküsst und aufgezogen, aber die Verhältnisse, die waren halt nicht so. Dagegen sprechen aber einerseits die Beseitigung des kindlichen Körpers, respektlos, aggressiv, und andererseits die grausige Vorgeschichte:

Laios, verheiratet mit Jokaste, verliebte sich in Chrysippos, den schönen Sohn seines Gastfreundes, verführte oder vergewaltigte ihn und ließ ihn lieblos zu Tode kommen. Wie genau, ist nicht überliefert. Darüber war Hera erzürnt, die Bewahrerin des Herdfeuers, des Hauses und der Ehe, aber nicht nur Hera, sondern auch der schöne Apoll, der die jungen Knaben schützt. Hera sandte zur Strafe die Sphinx, und die ganze Stadt Theben musste die Verfehlung ihres Königs büßen.

Und Apoll? So ausdrücklich wird das nicht benannt, aber im ganzen Stück des Sophokles wird er angerufen und das Unheil auf ihn zurückgeführt. Delphi ist die wichtigste Weihestätte Apolls, und es vertritt als Ort des mächtigen pythischen Orakels, nach dem insgesamt dreimal gesandt wird, die Ebene der Götter.

ORAKEL

Cartoon von Olaf Schwarzbach²

Allerdings spielt das Orakel Katz und Maus: Als Ödipus anfragt, ob der korinthische König sein Vater und dessen Frau seine Mutter sei, lautet die unheilvolle Antwort: Du wirst deinen Vater töten und das Bett mit deiner Mutter teilen!

MOTHERFUCKER

Und nun kommen wir zu einer der berühmten Inkonsequenzen im berühmtesten aller Dramen: Wenn Ödipus daran zweifelt, dass Merope und Polybos seine Eltern sind, und sie konnten ja seinen Zweifel nicht ausräumen, als er sie geradeheraus gefragt hat, warum macht es ihn dann so sicher, dass er den Konsequenzen des Orakels entgehen kann, wenn er auswandert? Warum ist das kein Thema mehr für ihn?

Das Orakel empfiehlt schließlich gegen die Pest, den Mörder des Laios ausfindig zu machen. Frei nach Karl Kraus, der das auf die Psychoanalyse münzte, erweist es sich schlankweg als jene Krankheit, deren Heilung es vorgibt zu sein.

¹ Vers 1176
² Cartoon mit freundlicher Genehmigung des Autors Olaf Schwarzbach. www.berlinverlag.de, www.ol-cartoon.de




ÖDIPUS LOST

h i r t e n   –   d i e   v e r l o r e n e   l i e b e s m ü h '

Sophokles beschreibt Ödipus als heimatlos Irrenden, als Entwurzelten, als Verunsicherten. Daran ändert auch nichts, dass es ihm gelingt, das Rätsel der Sphinx zu erraten und die ganze Stadt Theben zu erlösen.

Das Zeichen hierfür sind die Füße. Die Verletzung durch die Eltern sitzt so tief und wirkt so gewaltig, dass die Güte des Hirten, die unzweifelhafte Liebe und Zuwendung der Zieheltern und die eigene große Leistung nichts daran ändern können. Die Füße bleiben verkrüppelt, die Eltern haben ihn gezeichnet. Darauf weist der Bote explizit hin.

Bote: Ich binde dich los. Du hast durchbohrte Füße.
Ödipus: Furchtbar ist die Schmach, die ich in den Windeln bekam!
Bote: Von daher hast du deinen Namen (Ödipus = Schwellfuß), er sagt dir, wer du bist.
¹

Die Verletzung benennt ihn, sie bestimmt sein Leben. Die erste Szene in König Ödipus zeigt ihn als diesen Verletzten, als Ruhelosen, ja als Kranken, wie er selbst von sich sagt: „Ich weine ... keinen unter euch gibt es, der so leidet wie ich. Viele Wege bin ich gegangen in meinen irrenden Gedanken ...“ ²

¹ Vers 1035-1037
² Vers 59-65




ÖDIPUS LOST

f r e u d

Tja, selbst schuld.
Zwar haben ihn die Eltern im Alter von drei Tagen den wilden Tieren zum Fraß vorwerfen lassen, aber das Kind ist schuld. Es hat nämlich den Ödipus-Komplex. Es begehrt die Mutter und will den Vater ausradieren. Ojajaja, das ist etwas verkürzt. Aber dem Opfer die Schuld geben am Verbrechen – das ist beste psychoanalytische Tradition. Man lese Freuds Darstellung des Falles „Dora“.

FREUD

Aber halt, da müssen wir doch noch etwas gründlicher nachdenken. Wie war das mit der Schuld? Es scheint, als zwinge uns Sophokles, genauer hinzusehen. Das Irritierende an den antiken Dramen ist ja, dass es kein Gut und Böse gibt wie bei Schneewittchen, das der Jäger rettet. Die Stiefmutter ist alt und böse, und das Schneewittchen ist schön und gut und unschuldig. Laios und Jokaste sind böse, und Ödipus ist klug und jung und schön und unschuldig und – böse.

Hm. Die Psychoanalyse neigt dazu, Schuld zu relativieren und Systeme zu beschreiben, in denen Schreckliches vorkommt, in denen jeder seinen Part beherrscht. Das sollten wir im Kopf behalten. Überhaupt sollte man seinen Kopf behalten. Oder ihn kühl bewahren.

EISBÄR




ÖDIPUS LOST

v e r l o r e n   v o r   g e r i c h t

Kehren wir zurück zu dem Bild des Säuglings, dem die Füße durchbohrt wurden, als ob er nicht davonlaufen können sollte und sich rächen. Interessanterweise ist aber genau das passiert; die Fesselung hat nichts genützt, der Säugling hat sich davongemacht, ist wiedergekommen und hat den Vater erschlagen.

Allerdings – er hat nicht gewusst, dass es sein Vater ist. Und mit etwas Fantasie kann man die Szene am Dreiweg auch als Notwehr lesen. Sophokles, der Meister, lässt alles in kunstvoller Schwebe. Aber wie immer man es dreht und wendet – einnehmend wirkt Ödipus nicht: „Es trifft ihn ein geballter Schlag meines Stocks von dieser Hand; rücklings stürzt er mitten aus dem Wagen und rollte sofort zu Boden. Ich töte sie alle.“ Schneewittchen jedenfalls wäre anmutig zur Seite gewichen bei einem majestätischen Wagen, geschmückt und mit einem vorausgehenden Herold mit dem Heroldsstab.

Und wie sieht es mit der Mutter aus?

Aus dem Dialog Jokaste-Ödipus lässt sich ein eindeutig schon lange wenn nicht schon immer schwelender Konflikt lesen. Zwar scheint das Paar zu Beginn glücklich, in Übereinstimmung lebend, als funktionierender König mit Königin, doch darunter kocht es beträchtlich: Sie entscheidet für ihn, sie weiß, was zu seinem Besten ist, er tut es, aber er leidet darunter. Das ist wohl die Grundstruktur der Beziehung, ohne dass man dem Text Gewalt tut.

Jokaste: Hör auf mich, ich bitte dich.
Ödipus: Ich will jetzt nicht auf dich hören.
Jokaste: Und doch ist, was ich hier sage, für dich das Beste!
Ödipus: Gerade dieses Beste tut mir seit langen weh.
¹

Sie behandelt ihn nicht wie ihren Mann, sondern wie ihren Sohn. Und er hat das lange genug mitgemacht, bis auf diesen Tag, nun zündet er die Lunte. Er weiß, dass das ihr Ende bedeutet, und sein Ton wird immer kälter. Als sie sich zum Selbstmord zurückzieht, rührt ihn das nicht im Mindesten, auch als der Chor ihn darauf aufmerksam macht, dass ein Unglück ausbrechen werde, antwortet er nur: „Soll ausbrechen, was immer sie wünscht.“ ²

Dass sich die Quasigerichtsverhandlung, die Ödipus gegen den Mörder des Laios führt, gegen ihn selbst richtet, das hat Ödipus bald erkannt. Worum es ihm wirklich und mit Nachdruck geht, ist die Verhandlung gegen die Eltern, er will ihre Schuld feststellen, er will sie festnageln.

ORAKEL

Cartoon von Olaf Schwarzbach³

Er treibt seine Mutter wissentlich und mitleidlos in den Selbstmord. Man kann den Bericht des Dieners über die Blendung auch so lesen, dass Ödipus ein Schwert verlangt, um die Muttergattin zu töten, nachdem er endlich! nach all den Jahren erfahren hat, auf wie vielfältige Weise sie sein Leben zerstört hat: Nicht nur ausgesetzt hat sie ihn und dem Tod überlassen, nein, sie hat ihn verstümmelt, um ihm jeden Weg zu versperren, dann hat sie ihn nicht gelassen, sondern an sich gebunden, und weit davon entfernt, ihn jetzt zu unterstützen, hat sie ihn ränkevoll gehindert, die Wahrheit zu erkennen, die es ihm vielleicht ermöglicht hätte, Autonomie über sein Leben zu erlangen.

Das Ergebnis, als er keine Antwort, keine Genugtuung erfahren kann – der Vater modert schon lange, die Mutter hängt in der Schlinge – ist bekannt. Seine unbändige Wut – der Diener schildert eindrucksvoll, wie er wie wahnsinnig im Kreis rennt – richtet sich gegen sich selbst, er kappt alle Verbindungen, er verschafft sich ewige Nacht, er sticht sich die Augen aus.

¹ Vers 1064-1067
² Vers 1076
³ Cartoon mit freundlicher Genehmigung des Autors Olaf Schwarzbach. www.berlinverlag.de, www.ol-cartoon.de




EPIKASTE LOST

d e r   a l t e   h o m e r

Mit Homer haben wir die älteste Schilderung der Ödipus-Szenerie. In der Odyssee heißt es im XI. Kapitel¹:

Und die Mutter des Ödipus sah ich, die schöne Epikaste, welche die unglaubliche Tat einst vollbrachte, im Unverstand ihres Sinnes sich dem eigenen Sohn zu vermählen. Der aber tat es, nachdem er zuvor seinen Vater erschlagen hatte, und nahm sie zur Frau. Sogleich aber machten es die Götter den Menschen bekannt. Doch herrschte er in der vielgeliebten Stadt Theben über die Kadmeionen, wie es die Götter zu seinem Unheil beschlossen hatten. Sie aber ging in das feste Haus des Hades, indem sie einen hoch herabhängenden Strick am Balken ihres Gemaches befestigte, von ihrem Schmerz überwältigt.

TEOREMA

Silvana Mangano in Pasolinis Teorema, 1962

Homer lässt die Szene in der Unterwelt spielen; Odysseus ist gekommen, um Teiresias zu sprechen, doch bevor dieser sich zeigt, kommt eine Menge Toter, die Odysseus teils persönlich gekannt hat, teils aus Erzählungen. Epikaste – wie Jokaste bei Homer heißt – reiht sich ein in eine Anzahl klagender Frauen, die sich meist erotisch vergangen haben.

Einiges scheint uns Sophokles-Lesern bekannt, einiges vermissen wir. Zum einen fehlt das gesamte Orakel-Brimborium und damit die Ausrede für einerseits die Aussetzung des Kindes, andererseits für Vatermord und Mutterheirat. Interessant! Die Rolle der Götter beschränkt sich darauf, die Heirat als Skandal öffentlich zu machen.

Was die Psychoanalytiker schmerzen könnte, wäre die Absenz der Blendung – die Selbstkastration, die Bestrafung mithilfe der Kleiderspangen der Mutter. Was aber die herkömmliche psychoanalytische Interpretation noch weniger stützt, ist das zeitliche Zusammenziehen, dadurch kann die Schuld nicht jahrzehntelang wirken, und Ödipus muss keine Erinnerungs“arbeit“ leisten.

Hier haben wir es mit einem gewöhnlichen Verbrechen zu tun – der Vater wird mithilfe des Sohnes beseitigt, ob aus Machthunger oder aus erotischen Gründen, das wird nicht ausgeführt.

Das ist bestimmt die älteste Schicht der Erzählung. Wie es zu der Ausschmückung kam, wissen wir nicht. Die Aischylos-Fassung ist leider nicht erhalten, aber wir wissen so viel von seinem Ödipus-Stück, dass man davon ausgeht, dass es die gleichen Handlungs-Umrisse wie bei Sophokles hatte.

Die Homer-Version erhellt einiges über Jokaste: Keineswegs ist sie die Nichtsahnende, die eines Tages entdeckt, wen sie geheiratet hat und sich aus Scham umbringt. Bei Homer ist sie die Architektin des Verbrechens, und sie bringt sich um, weil es öffentlich wurde. Bei Sophokles schimmert ihr Bewusstsein durch: sie wehrt sich vehement gegen das Nachforschen, sie weiß, dass es um ihr Leben geht. Sie zieht alle Register ihrer mütterlichen Autorität, aber Ödipus ist entschlossen, ihre Tricks verfangen alle nicht mehr, kein Schmeicheln, kein Bitten, kein Beschwören. Für ihr Schuldbewusstsein sind auch bei Sophokles noch genügend Indizien vorhanden, aber auch Jokastes geistige Verfassung lässt er letztendlich in der Schwebe – wie sie sich mit ihren Lebenslügen arrangiert hat, dieses Geheimnis nimmt sie mit ins Grab.

¹ Vers 271-28




ÖDIPUS LOST

w i e   d u   m i r   s o   i c h   d i r

Wir stellen fest, die Dynamik des Stückes beruht auf dem Mechanismus, dass die Eltern ihr Kind töten und das Kind wiederum die Eltern. Wie das gleichzeitig geht, hat Sophokles in einer unendlich intelligenten Anordnung gezeigt, in der die „Konstruktionsfehler“ keine Fragen aufwerfen, sondern den atemlosen Zustand, in dem die Protagonisten in den Abgrund rasen, nur noch intensivieren.¹

Der große Erbe ist Shakespeare: Hamlet geht an seinen Eltern zugrunde, und das Zurückschrecken vor der Rache am Mord seines Vaters wird gedeutet als Erkenntnis, dass er selbst es ist, der diesen Tod wollte. Und wie war das genau mit Mutter Gertrud? Aja stimmt, da war was. Der Onkel war auf keinen Fall recht. Und alle sterben, Hamlet reißt sie mit. Allerdings ist das eine Interpretation, die viel weiter ausholen müsste, so wie Hamlet vielleicht weiter ausholt als Ödipus. Man darf auch an Dostojewsky denken, an die Brüder Karamasow und ihren Vater.

So weit, so gut. Die Eltern töten das Kind, das unschuldige Kind tötet die Eltern.

Aber wie setzt sich die Geschichte fort? Unvergleichlicherweise denkt Sophokles weiter: Der Rest ist nicht Schweigen, sondern Ödipus ist ziemlich gesprächig, so gesprächig, dass er ein ganzes weiteres Drama braucht: Ödipus auf Kolonos, das letzte Drama des greisen Dichters, fünf Jahre nach seinem Tod uraufgeführt in der Regie seines Enkels. Es zeigt Ödipus als Leidenden, der leidet. Man kann seine Figur nur in dieser Tautologie erfassen, denn sein Leiden ist sein einziges Thema.

Zum Thema Leiden empfehlen wir Music for a while von Henry Purcell. Es ist wenig bekannt, dass dieses Stück einer Ödipus-Tragödie entstammt. Es handelt davon, dass die Musik es vermag, wenigstens für eine gewisse Zeitspanne, den ewigen Zorn und Schmerz der Furien (hier namentlich angesprochen Alecto) als Rächerinnen von Verbrechen zu besänftigen.

MEDUSENHAUPT


Music for a while
Shall all your cares beguile:
Wond’ring how your pains were eas’d
And disdaining to be pleas’d
Till Alecto free the dead
From their eternal bands,
Till the snakes drop from her head,
And the whip from out her hands.

John Dryden, Oedipus, A Tragedy, 1678/1692

Musik soll kurze Zeit
Zerstreuen all Eu’r Leid:
Staunend nun vom Gram befreit
Ihr nicht eher zufrieden seid,
Bis Alekto die Toten löst
Aus ihrem ewgen Band,
Bis ihr vom Haupt die Nattern falln
Und die Peitsche aus der Hand.

Deutsche Übersetzung von Sebastian Viebahn


¹ Es gibt zwei göttliche Instanzen: Teiresias und das Orakel von Delphi. Wieso spielt der Seher in der Vorgeschichte keine Rolle?
Tatsächlich, warum ließ man den Mord an dem König ohne Folgen? Nicht einmal ein Begräbnis?
Und wie ging es eigentlich mit der Plage weiter?
Zu diesen Webfehlern gehört besonders die zeitliche Abfolge nach dem Laios-Mord – der Bote, der von ihm berichtet, findet Ödipus bereits als Herrscher vor, sodass er sich ins weiteste Gebirge versetzen lässt. Wie soll das gehen? Während er nach Theben zurückeilt, um den Tod des Königs zu melden, von dem ja dort niemand wissen konnte, löst Ödipus das Rätsel der Sphinx, die Stadt ist befreit von der Plage und die Hochzeit hat schon stattgefunden.
Es gibt noch mehr Ungereimtheiten, alle beruhend auf den Änderungen, die seit Homer passiert sind – die zeitlichen Abläufe, das Orakel, der blinde Seher, die Unwissenheit der Protagonisten – aber sie sind durchschaubar als Mittel zur Intensivierung der dramatischen Wirkung und der Erhöhung der psychologischen Komplexität, die wir nur bewundern können.




ÖDIPUS LOST

d i e   v e r l o r e n e   u n s c h u l d

Wir finden die Frage ungemein spannend, was Ödipus aus seiner Geschichte für Konsequenzen gezogen hat. Er, der durchlebt und durchlitten hat, was es heißt, von den Eltern abgelehnt, misshandelt, missbraucht, missachtet zu werden – was wird er seinen Kindern mit auf den Weg geben?

Mit Entsetzen stellen wir fest: Nichts Gutes.

Noch in der letzten Szene des König Ödipus zeichnet es sich ab: die Kinder werden abgewertet, sie dürfen nur in Abhängigkeit von ihm existieren:

Ödipus: Und wenn ihr das Alter der Heirat erreicht habt, wer wird denn,
ihr Kinder, das Wagnis auf sich nehmen?
Niemand wird sich finden, ihr Kinder. Sicher ist,
dass ihr verdorren werdet, kinderlos und unvermählt.
¹

Welch verheerendes Selbstbild gräbt Ödipus in seine Kinder ein! Aber wir werden sehen, es ist ihm alles recht, um wenigstens im Leiden der Allergrößte zu sein. Es ist, als ob er die Anerkennung immer noch sucht: Die Anerkennung seiner Eltern hat er vermisst, und nun missbraucht er dazu seine Kinder.

Ödipus: Das Schlimme, das an mir haftet,
zu tragen, wird kein Mensch außer mir je imstande sein.
²

Man kann natürlich einwenden, dass Ödipus nur die Realität seiner Kinder beklagt, aber eben das haben seine Eltern auch getan: Wir anerkennen als Realität, dass der Sohn den Vater töten wird, also müssen wir ihm zuvor kommen.

Wenn wir aber das Schicksal der Kinder weiter betrachten, wird jeder Einwand zugunsten Ödipus‘ zunichte. Vom Kind-Opfer wird er umgehend zum Vater-Täter, und genau das relativiert seine Unschuld. Für uns ist nicht so sehr die Frage interessant, ob er die Tragweite seines Tuns einschätzen konnte, sondern die Frage, wie er mit seinem Wissen nach der Tragödie umgeht.

Das traurige Los der Antigone ist, ihrem blinden Vater vorzustolpern, und Sophokles schildert in der Exposition auch schonungslos diese Beziehung:

Ödipus: So setz mich hin und schütze mich, den blinden Mann!
Antigone: Die Zeit war lang genug, zu lernen brauch ich's nicht.

Ödipus auf Kolonos³; Übersetzung Kurt Steinmann

Thomas Bernhard, ein schriftstellerischer Erbe der Familientragödien, in denen die Kinder niemals erwachsen werden, lässt die Mutter in dem Stück Am Ziel zu ihrer lautlosen Tochter sagen:

„Ich habe dich für mich auf die Welt gebracht … Ich bin deine unreine Mutter, deine furchtbare Mutter … Du gehörst mit Haut und Haaren mir.“

Antigone wird unvermählt und kinderlos sterben, wie der Vater vorausgesagt hat, ihr junges sinnloses Leben beklagend. Kreon hat verlangt, dass der gefallene Polyneikes, der seine Vaterstadt angegriffen hatte, ohne Grab bleibe. Dass Antigone dieses Gebot übertritt, ist ein kaum verhüllter Selbstmord, den sie von ihrer Mutter-Großmutter kennt. Sie hat kein Modell einer glücklichen Familie, sie kennt nur den „wüsten Knäuel von Vätern, Brüdern, Töchtern, Frauen“, und weder Vater noch Mutter haben ihr eine Handreichung gegeben, wie sie damit umgehen könnte. Die eine hat sich aus dem Staub gemacht und sich am Balken erhängt, der andere sie versklavt.

Genauso hart trifft es die beiden Brüder. Man möchte es nicht für möglich halten, welchen Hass der „weise“ Ödipus herausschreit, der doch von sich behauptet, wieder und wieder, er könne nichts dafür! Die Götter seien schuld! Und sich als Verdienst anrechnet, seine Leiden geduldig zu ertragen!

Und nie vergess ich meine Mörder! sie sind schuld,
dass ich in diesem Elend lebe! An ihnen liegt's,
dass irr ich gehe und erbetteln muss das Brot!
Sie seien ausgespien! Verflucht! und vaterlos!
Und fallen sollen sie, die Söhne, blutbeschmiert!

Zum Erbe ist bestimmt für sie soviel
von meinem Land als man zum Sterben braucht!

Ödipus auf Kolonos⁴; Übersetzung Kurt Steinmann

Genau so kommt es. Der Fluch erfüllt sich. Als Polyneikes gegen die Vaterstadt Theben zieht, um dem Bruder Eteokles die Herrschaft zu entreißen, die ihm zusteht, bringen sie sich gegenseitig um, im Kampf um die Vorherrschaft, so wie sie es von Vater und Großvater kennen. Und tatsächlich: sie kriegen vom Land soviel, als man zum Sterben braucht.

Das Rezept der Familie Labdakos führt alternativlos in den Abgrund. Töte dein Kind, bevor es dich tötet!

Unter diesen Prämissen versteht man auch, wie der Chor zu den berühmtesten aller Sophokles-Zeilen kommt:

Nicht geboren zu werden übertrifft
jedes Wort. Aber, wenn einer ans Licht getreten,
zu gehen dorthin, woher er kam,
aufs schnellste, das nächstbeste ist es bei weitem.

Ödipus auf Kolonos⁵; Übersetzung Kurt Steinmann

¹ Verse 1492-1493, 1501-1502
² Verse 1414-1415
³ Verse 21-22
⁴ Verse 1361-1364, 1374, 789-790
⁵ Verse 1224-1228




UND POLITISCH?

l a n d   u n t e r

Anders und auch wieder nicht: wie ein einziger Tag das Schicksal wendet! In der ersten Szene des König Ödipus sehen wir den Herrscher, der respektvoll als Retter des Landes tituliert wird, allerdings schon mit gewissem Vorbehalt: Sollte er diesmal versagen, wird man ihn nicht als Helden in Erinnerung behalten. Und Ödipus? Er bezeichnet sich als den, den man weithin „ruhmreich“ nennt. Gleichzeitig bezeichnet er sich als „krankend“, als Kränkster von allen. Das wiederholt sich im Schlussbild, als er wieder vor das Volk tritt, mit blutenden Augen. Sophokles schafft sowohl eine Analogie als auch einen Kontrast. Ödipus ist wieder der Kränkste von allen, diesmal deutlich sichtbar, aber die Fallhöhe ist äußerlich gegeben: Er hat keine Macht mehr, aus dem ruhmreichen König ist ein armer Flüchtling geworden.

Hat's was gebracht? Ist die Pest besiegt? Trägt alles wieder reiche Frucht?

POLITIK

Wie man's nimmt. Ödipus überantwortet das Land dem Bruder der Frau, die ihn fertiggemacht hat. Kreon, ein kalter Technokrat, ein Mann für Gesetz und Ordnung, wird Antigone umbringen, seinen Sohn und seine Frau in den Tod treiben. Hauptsache, die Anordnungen werden befolgt.

KEINE HEISSE ASCHE