BRENNER-GESPRÄCH

So viele Leute fahren über die Alpen nach Italien. Quart bittet herausragende Persönlich­keiten an den Straßen­rand zu einer Jause und einem Gespräch. Folge 12: Die Komponistin und Musikerin Iris ter Schiphorst erzählt im Gespräch mit der Dramaturgin Helga Utz von virtuellen Glücks­gefühlen, fehlenden Proben­zeiten und dem Don-Giovanni-Phänomen in der Neuen Musik.

Helga Utz: Du blickst jetzt schon auf Jahrzehnte im sogenannten Musik­betrieb zurück. Was wundert dich am meisten?

Iris ter Schiphorst: Ich finde im Moment interessant, dass die junge Ge­nera­tion der männlichen Komponisten sich zu Netz­werken zusammen­schließt und die momentane Dis­kussion bestimmt. Mit den Begriffen „Diesseitig­keit“ und „Neuer Konzeptualis­mus“ gibt es eine Schiene, die auf das Feuille­ton des Musik­betriebs, aber auch zunehmend auf die Pro­grammierung zugreift.

H. U.: Worauf führst du das zurück?

I. t. S.: Es gibt eine starke Sehnsucht, sich vom Erbe der großen deutschen Musik zu befreien. Offen­bar erzählt diese Musik nichts mehr, was die ganz junge Gene­ration, die so­genannten „digital natives“, anspricht. Die neue „Neue Musik“ soll mit den eigenen Lebens­welten vernetzt werden, man will ihr – und damit sich selbst – mehr Bedeutung geben. Man will einerseits die Selbst­referenziali­tät aufbrechen und steht anderer­seits der konse­quenten Entwick­lung in der Musik des 20. Jahr­hunderts ambivalent gegen­über. Da gibt es einen großen Wider­spruch. Fast alle dieser jungen Komponisten be­zeichnen sich als „Söhne“ von Helmut Lachenmann, Nicolaus A. Huber, Brian Ferneyhough oder Matthias Spahlinger. Zugleich beharren sie auf ihrem Eigenen und pro­pagieren den turn hin zu ihren digitalen „alltäglichen“ Lebenswelten. Das wird zum Teil sehr pro­gramma­tisch formuliert, bis hin zum Ausrufen neuer Ismen – wie man es beim sogenannten „Neuen Konzeptualis­mus“ sehr schön beobachten kann.

H. U.: Was würdest du dir anders wünschen?

I. t. S.: Mehr kontroverse inhaltliche Debatten und weniger Wett­bewerb um Dis­tinktions­gewinne, weniger Ab­grenzung, trotz des heftigen Kampfs um Res­sourcen. Was mich betrifft: Gegen den momen­tanen Trend im Diskurs der Neuen Musik, alles semanti­sieren zu wollen (und zu sollen), versuche ich heraus­zu­finden, ob man nicht doch in den Bahnen des Klanglich-Phänomenolo­gischen weiter­denken kann. Es scheint ja so zu sein, dass dem Klanglich-Phänomeno­logischen heute nicht mehr getraut wird. Die Dies­seitig­keits­kompo­nisten und auch die Neuen Kon­zeptio­na­listen suchen das Musika­lische durch das Seman­tische abzusichern. Aber das Seman­tische kann im Kontext von Kunst oder Musik auch schnell ins Pädago­gische ab­rutschen – man will zu ver­stehen geben. Ich finde das sympa­thisch, kann dem aber für meine Arbeit nicht viel abge­winnen. Ich setze eher auf Ver­stören: Kunst oder Musik als Irri­tation der eigenen (scheinbar gesicherten) Wahr­nehmung, der Gefühle etc. Ich glaube, dass darin eine Möglich­keit liegt, für Anderes, für Unbe­kanntes – auch im Selbst – zu sensibili­sieren.

H. U.: Wie siehst du dich als Komponistin? Als Schöpferin von Musik?

I. t. S.: Ich nehme wahr. Ich höre, ich sehe, ich lese, ich denke, ich suche, ich sammle Klänge. Das bringt mich an den Tisch oder zum Auf­nahme­gerät oder an den Computer. Mich interes­sieren Klänge und ihre Kontexte, ich arbeite gern mit Musikern und frage mich, was das Erbe dieser bürger­lichen Kunst namens Musik heute sein könnte. Meine letzten Stücke tragen alle den Unter­titel „Die Aufgabe von Musik“, natür­lich ist das mehr­deutig gemeint.

H. U.: Was hältst du selbst für dein wichtigstes Stück?

I. t. S.: Für meinen „Eintritt“ in die Gemeinde der Neuen Musik war meine Ballade für Orchester: Hundert Komma Null (1999) ganz sicher aus­schlag­gebend. DISLOKATIONEN für Orchester, Solo-Klavier und Sampler (2006–2008) halte ich persön­lich für mein wichtigstes Stück.

H. U.: Du erwähntest vorher Deutschland – wie national oder inter­national schätzt du denn die Szene der Neuen Musik ein?

I. t. S.: Sicher gibt es in Frankreich oder Italien eine spezielle Ästhetik, die durch­schlägt, aber viel gravieren­der ist der Ab­stand zu Ost­europa. Ich höre von Kollegen, z. B. von Uros Rojko, dass es sich dort ganz anders dar­stellt; beim War­schauer Herbst zum Bei­spiel werden die Stücke offen­sicht­lich nach völlig anderen Kriterien selek­tiert und wohl auch anders wahr­genom­men als zum Beispiel, sagen wir, in Witten. Wir im deutsch­sprachigen Raum – ich glaube, man kann Öster­reich da weit­gehend ein­be­ziehen – sind massiv geprägt durch die deutsche Ge­schichte und die Schlüsse, die wir daraus gezogen haben. Die Katastrophen, die Tabula rasa nach 1945 und der Neu­anfang, der Serialis­mus – das alles wirkt immer noch.

H. U.: Und lebst du kulturell in deutschen Zusammenhängen?

I. t. S.: Ja, obwohl ich das mit einer ge­wissen Distanz be­trachten kann, mir haftet durch­aus ein fremder Blick an. Ich bin auf Um­wegen zur Ko­mposi­tion ge­kommen und diese Umwege sind sicher auch be­zeich­nend. Ich habe mich viel mit Philo­sophie aus­ein­ander­gesetzt und mir immer wieder die Frage ge­stellt: Wie kann man im späten 20. oder 21. Jahr­hun­dert über Musik nach­denken? Wie kann man das, was zum Bei­spiel der Dekon­strukti­vismus in Bezug auf Litera­tur, Gesell­schafts­theorien oder Philo­sophie ge­dacht hat, in Bezug auf Musik denken. Viele Dinge waren mir da­durch von vor­neherein suspekt, anderes hat mich wieder sehr in den Bann ge­zogen. Beson­ders der Wider­spruch war faszinie­rend, dass sich ein span­nender Diskurs beim Hören nicht ge­spiegelt hat, oder auch umge­kehrt, dass ich etwas phänomeno­logisch interes­sant fand, was aber vom Diskurs nicht unter­stützt wurde – das alles war für meine Aus­einander­setzung ein starker Motor. Mir haben Dinge gefallen, die in den 1980er-Jahren über­haupt nicht ange­sagt waren.

H. U.: Kannst du Beispiele nennen? Du lachst?

I. t. S.: Ja, mir fällt ein, man sagt in Bezug auf die Achtziger: Wer sich daran erinnern kann, war nicht dabei! Also ich kann mich sehr gut erinnern. Mir hat damals z. B. das Stück Kontakte¹ von Stockhausen gut gefallen, ich fand es ein geniales Stück, auch wie es notiert war, es hat mich zutiefst inspiriert. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass es dieses Stück war, das mich dazu gebracht hat, selber in diesem „Genre“ zu komponieren. Und Stockhausen war damals alles andere als angesagt.

H. U.: Und diese Faszination hat bis heute gehalten?

I. t. S.: Sicher. Ich finde Kontakte nach wie vor gut! Oder auch: Mikrophonie², das halte ich nach wie vor für ein starkes Stück! Von der ganzen Idee her und was da klingt.

H. U.: Wenn du über Diskurs sprichst – der war ja in den Achtzigern viel präsenter!

I. t. S.: Ja und nein. Einen Diskurs gibt es heute auch, es gibt provo­kante Thesen, die Neue Musik wird für tot er­klärt, oder jemand ver­kündet öffent­lich, aus der Neuen Musik aus­zu­treten³ und löst damit einen für mich nicht nach­voll­zieh­baren Hype in der Szene aus. Die Digitali­sierungs-Apologeten melden sich regel­mäßig zu Wort, und immer wieder kreisen be­stimmte Diskus­sionen um Fragen nach dem Gehalt von Musik, interes­sante Anstöße kommen hier etwa von Harry Lehmann, wenngleich ich mit Vielem nicht über­ein­stimme.⁴ Interes­santer­weise wird der Diskurs zum Teil von Leuten ge­tragen, die originär gar nicht von der Musik her kommen. Viel­leicht muss man auch die Zeit­schrift „positionen“ von Gisela Nauck nennen, die tapfer versucht, den Über­blick zu be­halten über all das, was sich in Deutsch­land gerade so tut. Und es gibt den „bad blog of music“, der immer lustig zu lesen ist. Manche Kom­ponisten haben ihren eigenen Blog. Aber weißt du, was mir gerade auf­fällt? Es sind eigent­lich fast immer die Jungs, die schreiben, sich zu Wort melden. Und (lacht) ich ver­gesse dabei prompt, dass ich ja beim Klang­zeit­ort die Reihe Neue Musik im Diskurs mit­kura­tiere und be­treue. Die Idee dieser Reihe ist, nicht die typischen In­sider der Neuen Musik zu Wort kommen zu lassen, sondern einen Blick von außen auf unser Biotop Neue Musik zu ge­winnen. Für uns haben bereits der System­theo­retiker Peter Fuchs, der Sozio­loge Ulrich Bröckling, die Kultur­wissen­schaft­lerin Christina von Braun und der Literatur­wissen­schaft­ler Helmut Lethen ge­schrieben. Diese Beiträge kann man nach­lesen auf der Home­page von Klang­zeitort.⁵

H. U.: Du kommst immer wieder auf das Problem der Vermitt­lung zu sprechen. Kompo­nieren besteht zunächst einmal darin, die Ideen aufs Papier zu bringen, man muss dabei eine mehr oder weniger unzu­läng­liche Noten­schrift benutzen …

I. t. S.: … ja, die Notation, das ist ein gutes Stich­wort! Die musst du heut­zu­tage schon der­maßen auf Vorder­mann ge­bracht haben, dafür kann keine Minute Proben­zeit verwendet werden! Selbst die groß­artigsten En­sem­bles, die führen­den in der Neuen Musik, haben einen enormen Druck, es gibt wenig Zeit für Proben, anders wäre es ökono­misch gar nicht mehr mach­bar! Der „Betrieb“ ist wirk­lich einer. Der ist so geschliffen, so durch­ökonomi­siert, dass die Kom­muni­kation der Künstler unter­ein­ander auf das absolute Minimum herunter­ge­fahren werden muss. Das, was statt­finden könnte zwischen Noten­text, Musikern und Kompo­nist, was zu Dingen führen würde, die viel­leicht (noch) nicht notiert sind, das findet trau­riger­weise nicht mehr statt! Diesem Phänomen des Marktes unter­liegen meiner Meinung nach alle, auch die ganz jungen Ensembles. Dazu kommt das oft be­klagte Kuriosum, dass der deutsche Festival­markt immer nur auf das Brandneue setzt, die Ur­auf­führung wird zum Sinn und Ziel er­klärt, egal ob gut oder nicht. Das ist ein gewisses Don-Giovanni-Phänomen – jede Nacht ’ne andere, ohne sich wirk­lich darauf ein­zu­lassen. Der Komponist darf schon froh sein, wenn er seine Komposi­tion zu 60 Prozent so zu hören be­kommt, wie er es sich vor­ge­stellt hat. Das ist natürlich eine Bankrott­erklärung und ein Ab­gesang auf jeg­liches künst­lerische Tun. Die Ökono­misierung und dieses „Neu! Neu! Neu!“, ohne aber dem Neuen einen Raum zu geben, das alles lässt dem krea­tiven Pro­zess keinen Atem. Das „Fertig­produkt“ wird beim Kauf schon ein­ge­schätzt und ein­ge­taktet.

H. U.: Die vielen schönen neuen Möglichkeiten, die sich dem Komponisten heute bieten, die erweiterten klanglichen Potenzen, die vor Kurzem noch Utopie waren, werden quasi geschluckt von der Unmöglichkeit, diese in einen kreativen Prozess umzuleiten.

I. t. S.: Vor 30 Jahren war die Neue Musik viel exo­tischer. Heute kann man alles studieren, alter­native Spiel­weisen und Nota­tionen, da sind die Jungen sehr firm, alles Ab­frag­bare, Mess­bare ist vor­handen – aber warum jemand kompo­niert, das Eigent­liche, das Ge­heim­nis, das kommt kaum vor. Seiner­zeit ist man weit ge­reist, um ein Werk zu hören, um eine Aus­ein­ander­setzung führen zu können, um etwas zu er­fahren oder der Schüler von je­man­dem zu werden. Heute wähnen wir uns in siche­rem Be­sitz. Das gute Niveau der hand­werk­lichen Aus­bil­dung ver­hin­dert ge­rade­zu die Re­flexion und es fördert die ökono­mischen An­sprüche. Eine wunder­bare Partitur ab­zu­liefern mit origi­nellen Spiel­weisen, un­be­kannten Instru­menten, ge­spickt mit der ganzen Palette an Klang­mög­lich­keiten, die im letzten Jahr­hundert ent­deckt worden sind, mit einem pas­senden Ein­leitungs­text, der mög­lichst ein wenig pro­vokant wirkt, das geht schnell! Hier knüpft ja auch der oben er­wähnte Dies­seitig­keits­diskurs an, das muss man fairer­weise sagen, der schon danach fragt, was das alles soll, was das mit unserer Lebens­welt zu tun hat.

H. U.: Beneidest du manchmal Maler oder Literaten, die mit einem konkreteren Material umgehen und nicht so sehr abhängen von einer ganzen Maschinerie?

I. t. S.: Bestimmt! Wobei die bildenden Künstler ja auch Umwege machen müssen, aber Literaten beneide ich sehr! Die haben auch das Privileg, dass sie viel genauer mit der semantischen Ebene operieren können. Wir Komponisten müssen um so viele Ecken denken, und man kann immer nur hoffen, dass sich das, was man sich ausdenkt, über die Schrift und den Interpreten schließlich auch vermittelt, das ist oft wie Stille Post-Spielen.

H. U.: Welche Rolle spielt denn das Publikum bei diesem „getakteten“ Musikbetrieb?

I. t. S.: Da gibt es interes­sante Ent­wick­lungen. Das Publi­kum wird immer jünger, die An­ge­bote werden an­ge­nommen; meiner Beob­ach­tung nach ist das Pub­likum immer weniger ein­heit­lich, aus dem Aus­land kommen immer mehr Menschen hinzu, gerade hier in Berlin scheint es eine große Neugier zu geben auf das, was statt­finden könnte. Wenn man den Be­griff Neue Musik weit genug fasst, nicht un­be­dingt auf die klas­sischen Konzert­reihen be­schränkt, sondern auf Be­griffe wie Klang­kunst er­weitert, kann von Ghetto­isierung, wie es lange Zeit in der Be­trach­tung üb­lich war, kei­ne Rede sein – Klang­er­leb­nisse aller Art sind be­liebt!

H. U.: Gibt es deinen ganz persönlichen Erfahrungen nach eine Dis­kre­panz zwischen Urteil deines direkten Publikums und den Reaktionen der Fachkreise?

I. t. S.: Ich glaube, den „Fachkreisen“ war und bin ich immer noch suspekt. Wenn ich irgendwo eingeladen bin, werde ich meistens als „die Rocklady“ vorgestellt, als die rockige, unkonventionelle Person, die Powerfrau, die zwar nicht so gut denken kann, aber einen frischen Blick bietet. Kein anderer Aspekt meiner Biographie wird dermaßen in den Vordergrund gerückt wie die paar Jahre, in denen ich Rockmusik gemacht habe. Die Reaktionen des „normalen“ Publikums sind vielschichtiger, das Publikum ist sowieso nicht mehr so leicht zu fassen. Die Diversität schreitet voran, jedes kleine Grüppchen hat einen eigenen Kreis, junge Komponisten haben ihr Publikum, da gibt es persönliche Bindungen und Vorlieben, die sich ideologisch offensichtlich nicht vereinnahmen lassen. Kleine unbekannte Orte sind oft rappelvoll. Das schwarzgekleidete, intellektuelle und etwas verhärmte Neue-Musik-Publikum, das einer bestimmten Richtung folgt und diese im Konsens feiert, ist in die Jahre gekommen – wobei man anerkennen muss, dass es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine große Leistung war, diese klassischen Stätten der Neuen Musik zu etablieren und zu verteidigen. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem die Neue Musik nur den Bedingungen des freien Marktes ausgeliefert ist und von einigen spendablen Gönnern abhängt. Ich glaube, unsere subventionierte Kunst und Musik macht – bei aller berechtigten Kritik – ein autonomes Kunstsystem überhaupt erst möglich. Bei den jungen Leuten gibt es aber darüber hinaus offensichtlich ganz andere informelle Wege.

H. U.: Hast du ein Instrument, das du als Komponistin besonders liebst?

I. t. S.: Mein Lieblings-Hass-Instrument ist sicher­lich das Kla­vier. Ich habe das selbst studiert, meine Mutter war Pianistin, und bei uns zu Hause gingen ihre Klavier­schüler ein und aus. Sie hat mich musika­lisch immer unter­stützt, aber eben als Dienerin von Beethoven, Brahms und Schubert. Selbst zu kompo­nieren lag außer­halb meiner Vor­stellungs­kraft – den völlig anderen Blick auf Musik, auf das Kreative dabei, habe ich erst in der Punk- und Rock­szene er­fahren. Das Klavier, um das ich mich immer wieder be­mühe, hat seine besten Zeiten aber hinter sich. Gerade schrei­be ich für Kontra­bass­klarinette, das ist ein ganz un­er­forschtes In­stru­ment. Dabei kommt man in eine Forscher­situation. Ich finde es an­regend, was dieses Instrument klang­lich mög­lich macht. Das Gleiche gilt für die Große Pauke, für die ich ein­mal schreiben will. Da schwebt mir aller­hand vor. Mich faszi­niert dieses Instrument, am liebsten hätte ich eine.

H. U.: Und wie geht es dir mit der menschlichen Stimme?

I. t. S.: Die finde ich kompliziert! Nichts finde ich schrecklicher als diesen Gesangsstil, der sich in der Schönberg-Nachfolge herausgebildet hat. Das hat natürlich alles seine historische Berechtigung, es gibt wunderbare Stücke, keine Frage, aber grundsätzlich finde ich dieses Singen ganz grauenvoll! Trotzdem denke ich viel darüber nach und versuche damit umzugehen, dass jemand, der singt, sofort zur Figur wird. Jeder Musiker ist eine Figur, und so behandle ich ihn auch, man müsste immer mit einem Musiker auch als Musikerkörper arbeiten!

H. U.: Gerade arbeitest du an einem Stück, das durch Gesang bestimmt wird.

I. t. S.: Ich schreibe gerade ein „Kunstlied“, bei dieser Gattung ist man konfrontiert mit der Tradition, mit dieser Menge an wunderschönen Liedern, aber die Frage ist: Wie kann man das heute machen? Was kann das sein, ein Kunstlied, für mich, hier und heute. Diese Ungebrochenheit, die Verschmelzung von Wort und Musik, die Expression der singenden Person auf der Bühne, das funktioniert heute nicht mehr.

H. U.: Letzte Frage: Was ist das Schönste an deinem Beruf?

I. t. S.: Das Schönste, das muss ich zu­geben, sind die Ge­fühle, die sich manch­mal beim Kom­ponieren ein­stellen, ganz starke innere Klang­vor­stel­lungen. Dieser Beruf hat so viele Höhen und Tiefen, und oft ist man in schwarzer Ver­zweif­lung, weil man das nicht fin­det, was man „ver­klang­lichen“ will. Aber es gibt eben auch diese Mo­mente, wo man meint, man hat es ent­deckt! Oft suchst du ja Tage oder auch Wochen, und plötz­lich merkst du: Das ist es! Das Merk­würdige dabei ist, dass gar nichts pas­siert: Ich sitze am Tisch und stell mir etwas vor, und dabei über­kommt mich ein solches Glücks­ge­fühl, als hätte ich ein un­wahr­schein­lich tiefes Er­lebnis ge­habt. Hab ich aber gar nicht! Man hört es ja gar nicht, das ist ein rein virtu­elles Ge­fühl. Es kann natür­lich pas­sieren, dass ich ein, zwei Tage später alles re­vi­dieren muss, dann war das zwar ein wunder­barer Mo­ment, aber die Suche geht weiter. Es macht aber nichts, denn ich fühle mich dabei sehr lebendig.

Das Brenner-Gespräch (12) ist im Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 24/14 erschienen.

¹ Karlheinz Stockhausen, Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug (1959 / 60)
² Karlheinz Stockhausen, Mikrophonie I, Nr. 15 für Tam-Tam, 2 Mikrophone, 2 Filter und Regler (1964)
³ Michael Rebhahn, Hiermit trete ich aus der Neuen Musik aus; in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Band 22, hg. Michael Rebhahn und Thomas Schäfer, 2014 Schott Music, Mainz. Der Vortrag wurde 2012 gehalten.
www.harrylehmann.net
www.klangzeitort.de